Publications

Publication details [#10020]

Signori, Gabriela. 2005. Geschwister: Metapher und Wirklichkeit in der spätmittelalterlichen Denk- und Lebenswelt. 16 pp. URL
Publication type
Article in journal
Publication language
German

Abstract

(From the introduction) Am Montag, den 18. Juli 1491 erschien der rund fünfzigjährige Kaufmann und Wechsler Mathis Eberler († 1502), genannt Grünenzweig, vor dem Basler Schöffengericht. Er wollte klare Verhältnisse schaffen, Erbschaftsfragen regeln. Im letzten Jahr war sein Lieblingsneffe, der Sohn seiner Schwester Agnes, gestorben, der, weil Mathis und seine Frau kinderlos waren, längere Zeit bei ihnen gelebt hatte. Vor wenigen Wochen war dem Neffen noch seine Frau Barbara gefolgt. Sie war rund zwanzig Jahre älter gewesen als er. Geliebt hatte er nicht sie, sondern ihr Geld. Nun also zog er Bilanz. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben: Sterbe er, ohne eheliche Leibserben zu hinterlassen, dann solle sein Besitz zur Hälfte an seine Schwester Agnes, die Frau des Kaufmanns Bartholomäus Stüdlin, oder, falls Agnes nicht mehr am Leben sei, an ihre Kinder übergehen. Die andere Hälfte sollten die Kinder seiner verstorbenen Schwester Lena erhalten, die mit dem Kaufmann Ulrich zum Luft verheiratet gewesen war. Wie Eberler selbst waren auch die Männer seiner Schwestern Mitglieder der Schlüsselzunft, eine der vier Basler Herrenzünfte. Dies gilt auch für Heinrich Sinner, der Ehemann seiner dritten und vermutlich ältesten Schwester Margreth. Sie aber enterbte Mathis bei dieser Gelegenheit. Gründe nennt er keine; "vß ettlichen vrsachen in dartzu bewegende", heißt es lakonisch. Das Faktum selbst aber wiederholt er mehrfach, wohl um jedes Missverständnis auszuschließen. Zwei Monate vorher schon hatte Mathis seine Schwester Margreth aus dem Gedächtnis (Jahrzeit) getilgt, das er für sich, seine Frau, seine Eltern, seine Schwestern, seinen Lieblingsneffen und die restlichen Geschwisterkinder in der Peterskirche, seiner Gemeindekirche, eingerichtet hatte. Der Ausschluss gleicht einer damnatio memoriae. Auf die Frage, was ihn dazu bewogen haben mochte, werde ich später eingehen. Eberlers Entscheidung, seine älteste Schwester zu enterben, ist, wie angedeutet, eigenwillig. Aber er war nicht der einzige in der Stadt, der sich auf diese Weise an ungeliebten Geschwistern rächte. Trotzdem ist für die Zeit die Bedeutung typischer, die der kinderlose Ratsherr in seiner Lebensbilanz den Geschwistern einräumt, ebenso typisch der Platz den die Geschwisterkinder in der Zukunftsplanung ihrer Onkel und Tanten einnehmen. Geschwister und Geschwisterkinder bilden, wenn eigener Nachwuchs ausbleibt, in Erbschaftsfragen eine unauflösbare Einheit. Mit ihnen möchte ich mich im folgenden eingehender befassen sowohl aus dem Blickwinkel der Norm als auch aus dem Blickwinkel der mündlich tradierten und schriftlich fixierten Rechtspraktiken. Mein Arbeitsmaterial beziehe ich mehrheitlich aus den Beständen des Basler Gerichtsarchivs. Beginnen aber werde ich mit der Sprache bzw. mit Metaphern, der Rede von Bruder und Schwester im übertragenen Wortsinn. (Gabriela Signori)