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Barkfelt, Judith. 2003. Bilder (aus) der Depression. Metaphorische Episoden über depressive Episoden: Szenarien des Depressionserlebens. Konstanz, Germany: Hartung-Gorre. 498 pp.

Abstract

Judith Barkfelt unternimmt in ihrer Arbeit den Versuch, die Möglichkeiten der kognitiven Linguistik in praktischer Absicht auf ein therapeutisches Feld zu übertragen: Sie rekonstruiert aus den Texten von neun AutorInnen, die das Erleben einer klinischen Depression schildern, die metaphorischen Konzepte der Depressionsbeschreibung und leitet davon ein mehrstufiges Muster der therapeutischen Nutzung von Metaphern ab. Nach einer kurzen Einführung (S. 9-12) stellt das zweite Kapitel die neun behandelten AutorInnen vor, gibt einen vergleichenden Überblick über einige Aspekte der Depression in diesen Texten (Suizidalität, psychotische Zuspitzung, Medikation etc.) und schließt an die Symptomatik des krankheitsbedingten Verlusts der Sprechfähigkeit kurze Überlegungen zur Rolle des retrospektiven Schreibens in der Krisenbewältigung an (S. 12-31). Die Fallauswahl ließe sich mit der "Methode des entwickeltsten Falls" (Flick 2002:109) beschreiben: Es wurden die Texte von AutorInnen untersucht, die als SchriftstellerInnen oder TherapeutInnen eine entwickelte Kompetenz vermuten ließen, das sprachraubende Erleben wenigstens nachträglich metaphorisch zu erfassen. Eine exemplarische Diskussion von William Styrons "Sturz in die Nacht" in der englischen und deutschen Fassung zeigt eine weitgehende quantitative Übereinstimmung der verwendeten Metaphernfelder. Dies und der Ausgang von den Thesen der körperlich-erfahrungsverankerten und damit relativ sprachunabhängigen Metaphernkonzepte nach Lakoff und Johnson rechtfertigen das Vorgehen der Autorin, auch deutsche Übersetzungen englischsprachiger AutorInnen zu nutzen. Das kurze dritte Kapitel (S. 31f.) referiert die Forschungsaufgaben: Es geht der Autorin um die metaphorischen Konzepte des Depressionserlebens, ferner die Rekonstruktion von erfahrungsnäheren Szenarien der Depression und zuletzt um die Entwicklung von Interventionsstrategien. Das folgende Kapitel (S. 33-58) stellt die aktuell diskutierten Metapherntheorien mit Schwerpunkt auf Lakoff und Johnson dar. Es folgt der gegenwärtige Stand der psychiatrischen bzw. klinisch-psychologischen Diskussion der Depression mit einem Schwerpunkt auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen. Das fünfte Kapitel (S. 59-69) rekonstruiert die Methodik der Autorin: Als Linguistin und langjährige Co-Therapeutin begann sie vor der Kenntnis der Theorien der kognitiven Linguistik mit einer äußerst gründlichen Empirie, die sowohl quantitative Elemente enthält (sie zählt nicht weniger als 3296, ohne Wiederholungen immer noch 2489 manifeste Metaphern in den neun Texten) als auch und vor allem sinnhaft-rekonstruierende Vorgehensweisen der Textanalyse nutzt, die dem Kontext qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschung zuzurechnen wären. Nachvollziehbar betont sie die Konstruktionsleistung, aus manifesten Metaphern auf metaphorische Konzepte zu schließen, und lässt ihr Verfahren zwischen "Metaphernanalyse" und "Metaphernsynthese" (S. 68) oszillieren. Das umfassende sechste Kapitel (S. 70-258) enthält die Ergebnisse dieses Herangehens: Nach einer kurzen Vorstellung der Metaphernfelder beschreibt die Autorin zunächst die phasenspezifische Verteilung der Metaphorik (S. 84f.); hier fällt auf, dass 52% der Metaphern den (allmählichen) Beginn der Depression schildern, noch 38% die eigentliche Erkrankungsphase, und nur noch 10% der Metaphern werden für die Gesundung benutzt – ein irritierendes Ergebnis. Die Autorin diskutiert die Hypothese, dass das Schreibziel, die sprachliche Aneignung und Überwindung des Erlittenen, zu dieser Verteilung beigetragen hat; möglicherweise steht das Schreiben selbst für die Gesundung und bedarf der Metaphorisierung nicht mehr. Plausibel ist ebenso, dass der depressive Sprachverlust nur durch metaphorische Konzeptualisierung überwunden werden kann - ähnlich argumentiert Surmann (2002) zur Sprache von Menschen mit epileptischen Bewusstseinsverlusten. Den Hauptteil dieses Kapitels nimmt die Darstellung der metaphorischen Konzepte ein (S. 97-204). Zunächst werden diese in zentralen Redewendungen und deren Implikationen für die Betroffenen dargestellt, dann folgen Überlegungen, wie diese Metaphern zur Verständnissicherung ("Validierungsorientierte Metaphern", VOM), zur therapeutischen Intervention im engeren Sinne ("Genesungsorientierte Metaphern", GOM) und zur späteren Prophylaxe eines Rückfalls ("prophylaxeorientierte Metaphern", POM) eingesetzt werden können (S. 218f.). Ich beschränke mich im Folgenden auf die Erwähnung der fünf häufigsten von 26 metaphorischen Szenarien der Depression. Die Metaphorik von Kampf und Krieg kommt am häufigsten vor – die Depression ist eine Feindin, die Erkrankung wird als Angriff erlebt, die Betroffenen nehmen sich als Opfer, mit dem Rücken an der Wand und als Verwundete wahr (S. 158f.). Die zweithäufigste Bildlichkeit nutzt die visuelle Wahrnehmung: Depression ist Dunkelheit, das Leben wird als Verfinsterung des Geistes gesehen, rabenschwarze Mutlosigkeit erfüllt sie (S. 152f.). Die Metaphorik des Wegs ist als schreckliche Reise in eine öde, unwirtliche Welt präsent (S. 114f.); es folgt in der Häufigkeit als Bildquelle das Wasser, in dem die Betroffenen unterzugehen glauben, oder sie erleben sich mit untauglicher Ausrüstung ohne Navigation auf einem Meer ausgesetzt (S. 127f.). Damit schon angeklungen, jedoch als separates Bildfeld zu eruieren, ist die Metaphorik der Tiefe, des Lochs, in das man stürzt, das Fallen ins Bodenlose wird ebenfalls genannt (S. 139f.). – Diese kurze Zusammenstellung vermag nicht zu verwundern und kann keinen Eindruck von den überraschenden Neu- und Umprägungen konventioneller Metaphorik geben, die bei den einzelnen AutorInnen zu finden sind; ebenso muss hier auf die sehr interessanten Ausführungen zur Gebäude-, Folter-, Verlust-Metaphorik und anderen verzichtet werden – eine Rezension vermag die gesättigte Empirie nicht wiederzugeben. Hier ist das Material erhoben und geordnet, an dem sich zukünftige Arbeiten zur Versprachlichung der Depression orientieren müssen. Danach (S. 206-217) rekonstruiert die Autorin - als übergeordnete Konzeptmetapher "Depression ist Verlust"; - als abstraktes Subkonzept im Sinne Baldaufs, d.h. als gemeinsamen Erfahrungsbereich der meisten Metaphern Gefahr bzw. Bedrohung; - als Tenor der meisten Metaphern im Sinne Haverkamps das Gefühl der Angst. Sie relativiert diese linguistischen Unterscheidungen im Hinblick auf die klinisch relevante Schnittmenge des Erlebens. Ein Vergleich mit anderen Ansätzen metapherngestützter Beratung und Therapie schließt sich an (S. 217-231); die Autorin nutzt die klinische Unterscheidung zwischen lage- und handlungsorientierten Wahrnehmungsmustern zur Untermauerung der zwei oben genannten Gruppen von hilfreichen Metaphern (validierungs- vs. genesungs- und prophylaxeorientierte Metaphern). Ein weiterer Abschnitt widmet sich Überlegungen zu typischen Metaphernkombinationen (Reise und Dunkelheit; Tiefe und Dunkelheit, Verlust und Krieg u.a.), die mit Rückgriff auf das Kohärenz-Theorem von Lakoff und Johnson erklärt werden (S. 233-237). Das Kapitel schließt ab mit einem umfangreichen Beleg auf das wichtigste, hinter vielen Metaphern liegende Schema des Behälters (S. 238-251): Die Depression wird in vielen Konzepten (als Gefängnis, als Loch, als Unwetterzone, als Landschaft) vom Schema des Behälters geprägt. Das letzte Kapitel fasst die Arbeit bündig zusammen (S. 251-257). Es bleibt ein 220seitiger Anhang, der neben kleineren Materialien alle Metaphern nach AutorIn und nach Metaphernfeld geordnet enthält. (Rudolf Schmitt)