Innere Sprachform: Skizze zu einer Begriffsgeschichte
ClemensKnobloch
Universität Siegen
Zusammenfassung
Der von Wilhelm von Humboldt geprägte und von Heymann Steinthal Mitte des 19. Jahrhunderts propagierte Begriff der
Inneren Sprachform hat eine bewegte und von Diskontinuitäten geprägte Geschichte und eine äußerst vage und plastische Bedeutung.
Der Text rekonstruiert einige Stationen dieser Begriffsgeschichte, mit Blick auf deren Brüche und Richtungswechsel. Besonderes
Augenmerk gilt der Rezeption und der heuristischen Weiterentwicklung des Begriffs in den USA. Kontrastiert wird die US-Rezeption
(in Sprachpsychologie, Spracherwerbsforschung und Ethnolinguistik) mit der zeitgleichen ideologischen Verwendung des Ausdrucks in
der sprachnationalistischen deutschen Tradition.
Den zahllosen Betrachtungen, die bereits über den auf Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zurückgehenden Ausdruck “innere
Sprachform” (hinfort: IF) veröffentlicht worden sind, eine weitere hinzuzufügen, scheint ebenso müßig wie vermessen. Rechtfertigen
lässt es sich nur, wenn man es einmal ganz anders versucht als die vielen Vorgänger, die durchweg auf Kontinuität zwischen Herder und
Humboldt auf der einen, Boas, Sapir und Whorf auf der anderen Seite eingestellt sind. Dass sich hinter dem von Heyman Steinthal um
1850 herum programmatisch etablierten Wortkörper seither höchst unterschiedliche (und sogar gegensätzliche) Theorien, Modelle und
Konzepte verbergen, ist ein Gemeinplatz. Die “Attraktivität” des Ausdrucks hat definitiv nichts damit zu tun, dass er einen auch nur
halbwegs umrissenen “Inhalt”, ein identifizierbares “Gemeintes” (oder gar terminologische Qualitäten) aufweisen würde. Das hat er zu
keiner Zeit getan. Der Ausdruck zeigt auf etwas, das sich selbst nicht zeigt. Was die vielen Verwendungen von IF (halbwegs)
zusammenhält, das – so meine These – ist die konnotative Kopplung eines “exoterischen” (im Sinne von Fleck 1935 an die außerfachliche
Öffentlichkeit gerichteten) Anspruchs auf Tiefe, Wesentlichkeit, Eigentlichkeit der Sprachforschung mit der “esoterischen“
(innerfachlich adressierten) Kritik an der Beschränkung auf ausdrucksseitig verankerte und empirisch ratifizierbare Merkmale der
“äußeren Sprachform”. Man möchte mehr sein als ein bloßer Lautschieber und Formenpedant, der die ausdrucksseitigen Differenzen in
Lautstruktur, Formenbestand, Konstruktionsrepertoire und Lexik beschreibt. Was die vielen Verwendungen des Ausdrucks IF verklammert,
ist einzig die Gewissheit, dass es “hinter” den ausdrucksseitigen Verschiedenheiten der Repertoires ein “Mehr” gibt. More than
meets the eye, dieses “Mehr” kann kognitiv, kulturell, weltanschaulich, evaluativ etc. gefüllt werden. Und wie es jeweils
gefüllt wird, das ist jeweils indikativ für Selbstdefinitionen Problemhorizonte und für die (Selbst-)Verortung der Sprachwissenschaft
in ihren weiteren sozialen, kulturellen und sonstigen Umfeldern.
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