Jan Baetens Christian Palm Die ‚Lektürefehler‘

Übersetzung
Die ‚Lektürefehler‘: ‚Theoretische‘ Anmerkung zu einem Übersetzungsproblem

Jan Baetens Maastricht University / KU Leuven
Übersetzt von Christian PalmMaastricht University / KU Leuven

In diesem Aufsatz wird ein neuer Ansatz des Konzeptes ‚Fehler‘ bei Übersetzungen erläutert. Statt den Fehler als ein Element zu betrachten, das Zugang verschafft zur Kultur (zur Leistung, zum Wissen, zur Unwissenheit…) des Übersetzers oder seiner Leserschaft, werden solche textlichen Operationen hier als ein Zwang bzw. als ein Lektüre- und Schreibvorgang behandelt, der auf das ganze Schriftstück systematisch übergreift. Betrachtet man ihn als einen Zwang, so erscheint der Fehler sowohl als ein Element, das zu einem neuen Verständnis des Quelltextes beizutragen vermag, wie auch als eine Herausforderung, neue Zieltexte auszuarbeiten. Auch wenn hier nur Beispiele aus der Literatur angeführt werden, geht die Bedeutung des analysierten Vorgangs weit über das literarische Feld hinaus.

Inhaltsverzeichnis

Der Untertitel des vorliegenden Aufsatzes enthält das Wort ‚theoretisch‘. Wird dieses Wort falsch verstanden, kann ein sogenannter Lektürefehler entstehen. Denn in Wahrheit stammen die nachfolgenden Anmerkungen nicht von einem Experten in Übersetzungsfragen, Übersetzungstechnologien [„traductique“, A] oder Translatologie – und erst recht nicht von einem sachkundigen Übersetzer. Diese Ausgangslage scheint, wenn auch nicht die Gültigkeit des Ansatzes, so doch zumindest seine Anerkennung als… Theorie a priori in Zweifel zu ziehen, da Theorien eine innere und profunde Kenntnis des betreffenden Bereichs voraussetzen. Unter Berücksichtigung der sehr rezenten Akzeptanz des Begriffs – zumindest in einigen Bereichen wie u.a. den ‚Cultural Studies‘, die sich resolut der Transdisziplinarität verschrieben haben – erscheint der Untertitel jedoch als vollkommen gerechtfertigt. Insoweit sich ‚theoretisch‘ nicht mehr auf die ‚reflektierte und abstrakte Rückkehr zu seinem eigenen Bereich‘, sondern auf die ‚Übersetzungskritik zu bereichsübergreifenden Fragen‘ bezieht,11.So behauptet Vincent Descombes (1999: 200): „In den Schriften der amerikanischen Kulturkritik wird das Wort ‚Theorie‘ als absolutes Substantiv verwendet. Man muss weder präzisieren, wovon die Theorie handelt, noch wie sie sich auf Beobachtungen bezieht. Es handelt sich hierbei um eine Besonderheit des französischen Gebrauchs in den 1960er Jahren (insbesondere in den avantgardistischen Zeitschriften der Epoche)“. ist die Einmischung eines Laien in eine völlig andere Disziplin seit kurzem eine höchst theoretische Angelegenheit geworden. Kurzum: Je nachdem, ob Sie selbst den Begriff „theoretisch“ in seiner klassischen oder modernen Bedeutung verwenden, mir zudem glauben oder nicht, dass ich ebenfalls beide Bedeutungen des Wortes kenne, und je nachdem, ob Sie die Annahme als wahrscheinlich oder abwegig erachten, dass ich mich stillschweigend jenem Wortsinn anpasse (oder im Gegenteil entziehe), den ich als Ihren vermute, vermag das Wort „theoretisch“ zu allen erdenklichen Missverständnissen zu führen und darüber hinaus auch alle möglichen Übersetzungsfehler zu erzeugen.

Bekanntlich ist keine Übersetzung – und zweifellos keine andere Kommunikationsform – frei von Fehlern, die sich jenem Typ zuordnen lassen, für den das Wort ‚theoretisch‘ an dieser Stelle ein fast schon universelles Beispiel bildet. Weil Fehler überall und unvermeidbar sind, bezweifeln manche Personen die Möglichkeit des Übersetzens, ja sogar dessen Sinn. Da das Verständnis einer Botschaft immer kleineren oder größeren Verständnisfehlern zum Opfer fällt, entzieht sich selbst dem wachsamsten, klügsten und ernsthaftesten Übersetzer immer irgendetwas – seien dies Feinheiten oder offenkundige Dinge. Das Eingangsbeispiel zeigt übrigens gut, dass die auf diesen Seiten zu untersuchende Schwierigkeit keineswegs spezifisch ist für das Übersetzen als interlinguale Übersetzungspraxis, sondern dass sie sich gleichermaßen bei der intralingualen Umformulierung, dem Paraphrasieren, einstellt.

Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die fortschrittlichsten Formen der Übersetzungsstudien, die sich seit vielen Jahren zur Wissenschaft vom interkulturellen Austausch entwickelt haben, den ‚Fehler‘ in gewisser Weise zum Grundprinzip erhoben haben. Der Fehler dient nämlich als Katalysator und ermöglicht es, das Spiel der Unterschiede und Gegensätze zu rekonstruieren, die für den Kontakt zwischen zwei Kommunikationssystemen kennzeichnend sind. Mit diesem Umbruch ist eine kopernikanische Wende eingetreten, die dazu geführt hat, dass die zeitgenössischen Übersetzungsstudien kein Interesse an der Suche nach sprachlich treuen Übertragungen zeigen, sondern nachdrücklich auf der Notwendigkeit beharren, Kulturfragmente einem – zuweilen völlig anderen – Kontext anzupassen. Diese Wende benötigt den Fehler gewissermaßen, damit ein Bewusstsein für den Anpassungsprozess des einen kulturellen Systems an ein anderes entstehen kann. Der Fehler wird nicht im Geringsten verachtet, sondern für seinen symptomatischen oder symbolischen Mehrwert geschätzt. Er erscheint als Königsweg zum sozialdiskursiven Funktionieren, in dem die Übersetzung im engeren Sinne nur noch einen von mehreren Bereichen darstellt.22.Für mehr Details zu diesem Ansatz siehe die Arbeiten des Zentrums CETRA in Löwen (https://www.arts.kuleuven.be/cetra).

Auf diesen Seiten geht es nicht darum – das wäre heutzutage auch unnötig –, die Argumente all derer zu bekräftigen, die im Fehler einen Querweg zur Sozialstudie, ja sogar zur soziologischen Studie von Systemen sehen, die sich im Dauerzustand von Übersetzung und gegenseitigem Verrat befinden. Vielmehr besteht das Anliegen des vorliegenden Aufsatzes in der Betonung des – vor allem literarischen, trotzdem nicht verächtlichen – Nutzens, der sich ergibt, wenn man den Übersetzungs- oder Verständnisfehler als solchen betrachtet. Letzterer bietet dann die Möglichkeit, zu einer besseren inneren Kenntnis des zu übersetzenden Textes zu gelangen (Ich spreche bewusst vom „Text“ und nicht von der „Intention“ des Textes, da nur die Lektüre von Texten untersucht wird, während die Meinung des Autors über seine Texte hier ohne Relevanz ist).

Es sei mir gestattet, die Diskussion mit der folgenden Veranschaulichung zu beginnen, die zugleich sehr persönlich und weltweit verbreitet ist, obwohl sich die Beispiele von Leser zu Leser unterscheiden. Mit Blick auf einen berühmten Vers aus Paul-Jean Toulets Contrerimes [Gegenreime], nämlich „Dans Arle, où sont les Aliscams“ [„In Arles, wo die Alyscamps sind“],33.Es handelt sich um das erste Gedicht des Abschnittes „Chansons“ [„Lieder“] in Contrerimes [Gegenreime] (1921), dem einzigen Band des Dichters. „Dans Arle, où sont les Aliscams, / Quand l’ombre est rouge, sous les roses, / Et clair le temps, // Prends garde à la douceur des choses. / Lorsque tu sens battre sans cause / Ton cœur trop lourd; // Et que se taisent les colombes: / Parle tout bas, si c’est d’amour, / Au bord des tombes“ (zitiert nach der modernen Ausgabe (Toulet 1979: 93)). [In Arles, wo die Alyscamps sind, / Wenn der Schatten rot ist, unter den Rosen, / Und das Wetter hell, // Gib Acht auf die Sanftheit der Dinge. // Wenn du ohne Grund schlagen spürst / Dein zu schweres Herz; // Und dass die Tauben schweigen: / Sprich ganz leise, wenn es Liebe ist, / Am Rande der Gräber.] habe ich lange Zeit geglaubt – das Wort ‚glauben‘ ist eigentlich schlecht gewählt, da es ein in meiner Überzeugung nicht vorhandenes ‚Glauben-Wollen‘ impliziert –, dass das Wort „Aliscams“ sich nicht auf den antiken Friedhof am Stadtrand beziehe (in den örtlichen „Champs-Elysées“, um einer vielleicht wilden Etymologie zu folgen?), sondern auf die Stadtbewohner selbst (Erschwerend kommt in meinem Fall noch hinzu, dass mir das Wort „Arlésien“ [auf Dt. „Arlesier“] – ich füge es gleich an – alles andere als unbekannt war). In Ermangelung kulturellen Wissens hat sich dieser Irrtum über viele Jahre hinweg hartnäckig behauptet, bis er sich durch Zufall aufklärte. War diese Aufklärung im Hinblick auf die Wahrheit erfreulich, so war sie im Hinblick auf die Poesie in demselben Maße bedauerlich, denn Toulets Vers bezog seine nachhaltige Zauberkraft unter anderem aus der vermeintlichen Tautologie.

Man verzeihe mir auch, dass ich mich – sogar vor jedem Mindestmaß an Analyse – an diese Jugenderinnerung klammere und nun noch ein zweites Beispiel gebe, das sicherlich weniger persönlich, aber zweifellos bekannter ist und überdies schon eher einer wahrhaftigen Methode denn einer Unachtsamkeit, Nachlässigkeit oder Inkompetenz ähnelt. Jorge Luis Borges, über den ich nun sprechen möchte, geht nämlich wiederholt auf die Magie von Metaphern in absentia ein, zu denen uns der Schlüssel fehlt und die wir in ihrer verwirrenden Wörtlichkeit erblicken, wenn wir das Glück haben, ihnen in ihrer absoluten und beunruhigenden Fremdheit zu begegnen, statt das rätselhafte Comparatum [Vergleichsmaß] unverzüglich auf das sehr gewöhnliche Comparandum [Vergleichsobjekt] herunterzubrechen, wie dies der Fall ist, wenn wir die „Bedeutung“ des Bildes kennen oder verstehen. So hebt Borges die starke Einwirkung auf den unbefangenen Geist hervor, die zum einen ausgeht von den metaphorischen Klischees der „Kenningar“ (Borges 1981a) – ich komme auf diese alten nordischen Epen zurück – und zum anderen auch von Quevedos Distichon „Su tumba son de Flandes las campañas / y su Epitaphio la sangrienta luna“ [„Die Felder Flanderns sind sein Grab / und der blutige Mond sein Epitaph“], in welchem über das Bild des „blutigen Mondes“ nichts anderes als der Islam evoziert wird (Borges 1981b: 49).

Es war schon zu verstehen, was all jenen Verständnisproblemen zugrunde liegt, die derartige Fehler in gleich welcher Übersetzung hervorzubringen vermögen. Erstens: Bei den verschobenen Interpretationen handelt es sich weder um einfache Ungeschicklichkeiten noch um gewollte Abweichungen. Zweitens: In beiden Fällen besteht – egal ob bewusst oder unbewusst – der Wunsch, den Ausgangstext auszuschmücken, zu „literarisieren“. Man ist entzückt von der Kühnheit eines Bildes oder begeistert von der Schönheit eines Begriffs; man ist bestrebt, Farbe ins Grau zu bringen. Mir scheint, dass dieser Reflex – zumindest bei einer andersartigen Leserschaft – gegenüber der nicht minder bedingten, nicht minder starken und nicht minder legitimen Suche nach maximaler Kohärenz und minimaler Inkohärenz überwiegt. Ich glaube, dass jeder einen solchen Wunsch beim Erlernen einer neuen Sprache hegt – vor allem am Anfang, wenn die Katachrese wieder zu der Metapher wird, die sie einst gewesen ist, und die wörtlichen sowie figürlichen Bedeutungen erneut Bocksprünge machen. Aber im Grunde kommt dieser oder ein analoger Wunsch ebenfalls zum Vorschein, sobald man sich mit der Sprache oder den Sprachen auseinandersetzt, die man kennt oder zu kennen glaubt. Denn gerade die Literatur lehrt uns, dass man selbst eine tote Sprache niemals kennen kann und dass man diese Sprache umso mehr verlernt, je besser man sie kennt. Der Vorgang, gemäß dem dies geschieht, wird kraftvoll evoziert in diversen Schriften Jean Paulhams, der laut einem naiven Irrglauben als Meister der Verwunderung gilt.44.Es lässt sich vor allem denken an die Variationen des Problems von „toten“ und „lebendigen“ Metaphern in Les Fleurs de Tarbes [Die Blumen von Tarbes] (Paulhan 1936) – ganz zu schweigen von den vielen Kommentaren, die Jacques Derridas Text „La mythologie blanche“ [„Die weiße Mythologie“] in Umlauf bringt (Derrida 1971).

Dennoch ist es nicht ganz richtig, hier von einem Wunsch zu sprechen. Vielleicht ist dies sogar ein Fehler. Denn der betreffende Fehler kann nicht ausgebügelt werden und zieht überall Folgen nach sich – beispielsweise durch Korrektur, Verschleiß oder aber eine bessere Sprachkenntnis. Er tut dies sogar in zweierlei Hinsicht. Es ist zunächst negativ, da sich bittere Enttäuschung des gewitzten Sprechers bemächtigt. Borges geht sogar so weit zu sagen, dass es bei der literarischen Lektüre besser sei, auf das Wissen-Wollen oder das Verstehen-Wollen zu verzichten.55.Der Leser, der die Magie am Leben erhalten will, neigt oftmals dazu, sein Verlangen nach Literarität zu verlagern (Bei mir war dies der Fall mit Toulets Gedicht, das hierfür ideal geeignet ist). Sicher ist jedoch, dass viele Verse nicht der Übung des Paraphrasierens widerstehen. Diese Operation ist weniger unnötig als vielmehr gefährlich. Infolgedessen lässt sich die folgende Hypothese aufstellen: Ein „haltbarer“ Text muss seine Paraphrase überleben können (vorausgesetzt, dass diese „korrekt“, also virtuell entmythisierend ist). Im Gegensatz zu dem Verlauf eines Sprachfehlers ist es beim Verständnisfehler nämlich unmöglich, so zu tun, als wäre dieser nie passiert. Der informierte Leser kann sich nicht des unangenehmen Eindrucks erwehren, benachteiligt zu sein. Durch diese Ernüchterung unterscheiden sich die hier behandelten Fehler von den ständigen Anpassungen, die beim Kontakt zweier sprachlich-kultureller Systeme erforderlich sind (In diesem Fall sind die Entdeckung eines Verständnisfehlers sowie die Wiederherstellung von Bedeutung – bzw. eher die Erstellung einer anderen Bedeutung – hingegen für alle Personen vorteilhaft, die sich für die Art und Weise interessieren, wie interkultureller Austausch stattfindet). Aufgrund der vollendeten Transformation des Quelltextes gibt es daneben aber auch eine positive Folge. So wird nämlich die Einschätzung möglich, dass der Fehler den Text radikal verändert und dass er dies auf eine völlig andere Weise als die gewöhnliche Kommunikation tut, die ihrerseits durch ein ewiges, permanentes Wiederverwerten und Erneuern von Zeichen und Botschaften gekennzeichnet ist.

Genau wie bei der Verbesserung des so unvorsichtig geprägten Begriffs Wunsch ist es auch zweifellos wichtig, sich genauer zu fragen, welchen fundamentalen Status jene Fehler haben, die bisher als einfaches Epiphänomen betrachtet wurden, das – ungeachtet seiner literarischen Bedeutsamkeit – unvermeidlich ist und keinerlei Aussagekraft jenseits seiner zufälligen sowie rein subjektiven Geltung besitzt. Hier kann der Rückgriff auf das Konzept Zwang die Debatte über Fehler in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Bekanntermaßen handelt es sich beim Zwang, der hier – unter Vernachlässigung literarischer Aspekte – rein technisch gesehen wird, um einen Schreibvorgang, der sich auf vielfältige Weise, aber nicht vollkommen von einigen anderen Phänomenen (wie etwa der Sprachnorm oder den rhetorischen Mitteln) unterscheidet, mit denen er oft in Verbindung gebracht wird. Der Zwang unterscheidet sich von der Sprachnorm durch seinen fakultativen Charakter. Zwar mögen „ohne Grammatikfehler schreiben“, „auf Französisch schreiben“ und „schreiben unter Beibehaltung der Textgliederung (zum Beispiel in Abschnitte)“ ebenfalls Zwänge sein, doch gehören sie nicht zu jener Art von Zwang, die man im Blick hat, wenn man vom literarischen Zwang spricht. Genauso unterscheidet sich der Zwang auch von den rhetorischen Mitteln; und diese Unterscheidung basiert auf mehreren Kriterien, zu denen vor allem der systematische Charakter des Zwangs gehört. Wenn sich der Zwang als ein Verfahren definieren lässt, so ist er in erster Linie, aber nicht ausschließlich, ein Verfahren, das in einem bestimmten textlichen Gebilde allseits angewendet wird und dessen geregeltes Auftreten sich dem Blick des aufmerksamen Lesers offenbart (Schiavetta und Baetens 2000). Solange das Anagramm auf örtlicher Ebene Bedeutungseffekte betont oder erzeugt, ist es ein rhetorisches Verfahren; wird das Anagramm jedoch allgemein verwendet, so wird es zum Zwang (Zahlreiche gegenwärtige Beispiele hierfür finden sich im Werk Michelle Grangauds). Zwar mag die Verwechslung von Täter und Opfer in vielen Kriminalromanen eine Schlüsselrolle spielen, doch wird dieses Verfahren der – sagen wir – handlungstragenden Verwechslung erst dann zu einem Zwang, wenn sämtliche Beziehungen der Romanfiguren untereinander durch die Überlappung der Handlungspositionen bestimmt werden (für ein Beispiel siehe Lahougue 1989). Ferner ist der Zwang nichts Fixes, sondern eine dynamische Struktur, die auch aus Sicht der Textproduktion oder -rezeption untersucht werden kann. So kann es Produktionszwänge geben, die im erstellten Text nicht objektiviert sind (Dies gilt beispielsweise für die versteckten Vorgänge nach Art von Raymond Roussel). Genauso kann es auch Rezeptionszwänge geben, die in keinem unmittelbar wahrnehmbaren Zusammenhang mit dem erstellten Text stehen (Dies geschieht bei jenen Lesarten, die Texten systematisch auferlegt werden, obwohl Letztere nach einer völlig anderen Entschlüsselung zu verlangen scheinen. Borges gibt hierfür ein treffendes Beispiel, wenn er vorschlägt, Thomas a Kempis’ Nachfolge Christi so zu lesen, als wäre dieses Erbauungsbuch durch den Marquis de Sade verfasst worden).66.In Borges’ Werk wimmelt es von solchen Suggestionen, deren Musterbeispiel zweifelsfrei das Quichotte-Rewriting von Pierre Ménard ist.

Das Verhältnis von Zwang und Lektürefehler erscheint auf den ersten Blick arbiträr, aber in Wahrheit sind die Analogien zuweilen auffällig (Die Verlockung, sich mit diesem Verhältnis zu beschäftigen, beruht auf dem Umstand, dass eine solche Vorgehensweise an einen Ansatz anschließt, der den Zwang als einen „universellen“ Vorgang verstanden wissen möchte – oder zumindest als einen deutlich breiteren und weniger außergewöhnlichen Vorgang als bisher angenommen).

Auf der einen Seite muss festgestellt werden, dass beim Fehler ein radikaler Bruch besteht zwischen dem, was der Text ist, und dem, wofür er gehalten wird. Wenn sich diese Fehldeutung allgemein verbreitet, sich also auf den gesamten Text auswirkt, ist es nicht abwegig, sie als einen Sonderfall des Rezeptionszwanges zu betrachten. Mit dem Konzept des Fehlers wird es nämlich möglich, die Diskussion von der psychologischen auf die technische Ebene des Vorgangs zu verlagern. Es geht nicht mehr um die Frage, ob man es mit einem im Grunde willkürlichen und harmlosen Hirngespinst zu tun hat, sondern ob der betreffende Fehler eine andere, den gesamten Text berücksichtigende Lektüre erlaubt oder nicht. Diese starke Hypothese wird durch die bisher angeführten Beispiele nicht widerlegt. Genau wie die Verwechslung von „Aliscams“ und „Arlésiens“ ist auch das Nichtherstellen der Verbindung von „Schwertwasser“ und „Blut“ oder von „Holzpferd“ und „Galgen“ (diese Beispiele sind entlehnt aus Borges 1981a: 65 und 57) kein örtlicher Fehler, sondern färbt auf die gesamte Textlektüre ab.

Geht man auf der anderen Seite von der These aus, dass der Fehler trotzdem nur örtlich sei, so bleibt die Verbindung mit dem Zwang vorstellbar, sofern sich der Rezeptionszwang – d.h. die systematische Lesart – wahrhaftig in beispielsweise eine Übersetzung einschreibt, die zu einem zwanghaften Text werden kann. Hierbei ist es unerheblich, ob der Zwangscharakter des Ausgangstextes abstrahiert wurde oder nicht. Das Konzept Zwang, mit dem eine – um dies zu wiederholen – äußerst singuläre Verfahrensform beschrieben wird, überschneidet sich nicht mit dem Konzept des zwanghaften Textes, das eine Struktur umschreibt, welche den Zwang zu aktualisieren vermag. So kann ein Rezeptionszwang auf einen zwanglosen Text angewendet werden und dadurch einen neuen Text erzeugen, der seinerseits in der Lage ist, zwanghaft zu sein. Dies ist der Fall bei einer Übersetzung, die die örtlichen Schwierigkeiten keinesfalls beseitigen will, sondern die Dinge stattdessen vom anderen Ende her sieht und den gesamten Text dem Knoten örtlicher Undurchsichtigkeit anpasst. Dies würde zweifellos der Quevedo-Übersetzer machen, wenn er der Bedeutung der Metapher des „blutigen Mondes“ keine Beachtung schenkte – und dies vielleicht sogar absichtlich (Denn selbstverständlich darf der Fehlerbereich nicht auf die unfreiwilligen Fehler beschränkt werden). Borges macht dies vielleicht selbst, indem er den zweiten Vers des zitieren Distichons in eines seiner eigenen Sonette einfügt, dessen Zweck es gerade ist, dem Bild des Mondes seine alte Kraft zurückzugeben (Borges 1975: 101). Die zur „Rettung“ der Metapher bestimmte Übersetzung erscheint hier in der Form eines besonders listigen Rewriting.

Man wird einwenden, dass sich der letztgenannte Vorgang – also die Anpassung des ganzen Textes gemäß einer punktuellen Schwierigkeit – nicht grundsätzlich von der Suche nach Kohärenz unterscheidet, die beispielsweise dazu führen kann, dass ein örtlicher Lektürefehler durch eine Transformation des gesamten zu übersetzenden Textes ausgeglichen wird. Mir scheint es jedoch zwei Argumente zu geben, die eine etwas andere Sichtweise ermöglichen. So besteht die Grundlage des ganzen Unterfangens zunächst nicht darin, ein örtliches Problem zu lösen oder zu beseitigen, sondern dieses im Gegenteil auf den gesamten Text auszudehnen. Mit anderen Worten handelt es sich darum, den Text komplizierter zu machen, ja sogar den wörtlichen Zusammenhang aufzubrechen und zu verlassen, um ihn in einer Endlosbewegung an anderer Stelle besser wiederzufinden. Ferner ist es nicht weniger notwendig zu betonen, dass ein dieser Übersetzungsart geschuldeter Fehler eigentlich kein Fehler mehr ist, weil er Zugang zu einer neuen Ebene oder neuen Potenzialität des Ausgangstextes verschafft. Bei diesem Vorgang mag der Mangel an semantischer Eindeutigkeit zwar manchmal eklatant sein, doch dadurch wird nicht verhindert, dass der neue Text einem echten Zwang entsprechend arbeitet.

Noch allgemeiner ließe sich einwenden, dass meine Parteinahme für eine Betrachtungsweise, die den Fehler als virtuellen Zwang auffasst, im Grunde bloß ein verstecktes Plädoyer für ein postmodernes „Anything goes“ ist. Doch auch diese Unterstellung lässt sich durch die angeführten Beispiele zurückweisen. So sind die hier besprochenen Fehler Teil eines weitverbreiteten Phänomens, das für viele zum Leben einer Sprache gehört. In keiner Weise verfolgen sie parodistische oder frevelhafte Absichten. Angesichts der Systematik, durch die sich der Zwang auszeichnet, ist sogar das Gegenteil der Fall. Der Lektürefehler ändert seine Natur nicht dadurch, dass der launische Leser Gefallen daran findet, dies zu beschließen. Er verändert sich erst, wenn der Zwang – und nur dieser spezifischen Voraussetzung – hinzukommt.

Anmerkungen

1.So behauptet Vincent Descombes (1999: 200): „In den Schriften der amerikanischen Kulturkritik wird das Wort ‚Theorie‘ als absolutes Substantiv verwendet. Man muss weder präzisieren, wovon die Theorie handelt, noch wie sie sich auf Beobachtungen bezieht. Es handelt sich hierbei um eine Besonderheit des französischen Gebrauchs in den 1960er Jahren (insbesondere in den avantgardistischen Zeitschriften der Epoche)“.
2.Für mehr Details zu diesem Ansatz siehe die Arbeiten des Zentrums CETRA in Löwen (https://www.arts.kuleuven.be/cetra).
3.Es handelt sich um das erste Gedicht des Abschnittes „Chansons“ [„Lieder“] in Contrerimes [Gegenreime] (1921), dem einzigen Band des Dichters. „Dans Arle, où sont les Aliscams, / Quand l’ombre est rouge, sous les roses, / Et clair le temps, // Prends garde à la douceur des choses. / Lorsque tu sens battre sans cause / Ton cœur trop lourd; // Et que se taisent les colombes: / Parle tout bas, si c’est d’amour, / Au bord des tombes“ (zitiert nach der modernen Ausgabe (Toulet 1979: 93)). [In Arles, wo die Alyscamps sind, / Wenn der Schatten rot ist, unter den Rosen, / Und das Wetter hell, // Gib Acht auf die Sanftheit der Dinge. // Wenn du ohne Grund schlagen spürst / Dein zu schweres Herz; // Und dass die Tauben schweigen: / Sprich ganz leise, wenn es Liebe ist, / Am Rande der Gräber.]
4.Es lässt sich vor allem denken an die Variationen des Problems von „toten“ und „lebendigen“ Metaphern in Les Fleurs de Tarbes [Die Blumen von Tarbes] (Paulhan 1936) – ganz zu schweigen von den vielen Kommentaren, die Jacques Derridas Text „La mythologie blanche“ [„Die weiße Mythologie“] in Umlauf bringt (Derrida 1971).
5.Der Leser, der die Magie am Leben erhalten will, neigt oftmals dazu, sein Verlangen nach Literarität zu verlagern (Bei mir war dies der Fall mit Toulets Gedicht, das hierfür ideal geeignet ist). Sicher ist jedoch, dass viele Verse nicht der Übung des Paraphrasierens widerstehen. Diese Operation ist weniger unnötig als vielmehr gefährlich. Infolgedessen lässt sich die folgende Hypothese aufstellen: Ein „haltbarer“ Text muss seine Paraphrase überleben können (vorausgesetzt, dass diese „korrekt“, also virtuell entmythisierend ist).
6.In Borges’ Werk wimmelt es von solchen Suggestionen, deren Musterbeispiel zweifelsfrei das Quichotte-Rewriting von Pierre Ménard ist.

Zitierte Werke

Borges, Jorge Luis
1975 „A un viejo poeta“, in: ders.: El hacedor. Buenos Aires/Madrid: Emecé/Alianza 1975 [1960], 101.
1981a „Las kenningar“, in: ders.: Historia de la Eternidad. Buenos Aires/Madrid: Emecé/Alianza 1981 [1953], 45–70.
1981b „Memoria inmortal de don Pedro Giròn, duque de Osuna, muerto en la prisiòn“, zit. von Borges in: ders.: Otras Inquisiones. Buenos Aires/Madrid: Emecé/Alianza 1981 [1960], 44–51.
Derrida, Jacques
1971 „La mythologie blanche“, in: Poétique 5, 1–52.
Descombes, Vincent
1999 „Rorty contre la gauche culturelle“, in: Critique 622, 195–217.
Lahougue, Jean
1989La Doublure de Magrite. Paris: Les Impressions nouvelles.
Paulhan, Jean
1936Les Fleurs de Tarbes. Paris: Gallimard.
Schiavetta, Bernardo und Jan Baetens
2000 „Définir la contrainte“, in: Formules 4, 20–55.
Toulet, Paul-Jean
1979Contrerimes. Paris: Gallimard.

Hinweis des Übersetzers

A. Ich spreche zwar von „Übersetzungstechnologien“, möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass dieser Begriff nicht in der Wissenschaft etabliert ist. Stattdessen gibt es weder im Deutschen noch im Englischen ein genaues Pendant zum französischen Begriff „traductique“. Letzterer bezieht sich auf alle Anwendungen von Informatik beim Übersetzen. Neben der rein „maschinellen Übersetzung“ gehören hierzu auch die beiden Formen der „computerunterstützten Übersetzung“: maschinelle Übersetzung mit menschlicher Hilfe einerseits und menschliche Übersetzung mit maschineller Hilfe andererseits.

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